WM der Last-Minute-Treffer
Bei der Weltmeisterschaft wird den Zuschauern jede Menge Ausdauer abverlangt. Wer schon vor dem Schlusspfiff zu seinem Auto läuft, um einen Stau zu vermeiden, oder zum falschen Zeitpunkt die Toilette aufsucht, verpasst das Beste. Bisher ging es gerade in den Schlussminuten besonders zur Sache: Rund ein Drittel aller Tore fiel erst ab der 76. Minute.
36 von insgesamt 111 Treffern, die nach 44 von 64 WM-Spielen zu Buche stehen, wurden in der Schlussviertelstunde erzielt, sechs davon sogar erst in der Nachspielzeit. Vor vier Jahren in Südkorea und Japan gab es während der gesamten WM nur 31 späte Tore (19 Prozent).
Der Höchstwert in der WM-Historie war bisher beim Turnier 1990 in Italien mit knapp 29 Prozent der Treffer in der Schlussphase erreicht worden, darunter auch Andreas Brehmes goldener Elfmeterschuss in der 85. Minute des Endspiels von Rom gegen Argentinien.
"Das konditionelle Niveau ist so hoch wie nie zuvor. Die kleineren Mannschaften wie Trinidad und Tobago bauen nach 75 Minuten drastisch ab", versucht Holger Osieck, Mitglied der Technischen Kommission des Weltverbandes FIFA, das Phänomen zu erklären.
Dabei erinnert der ehemalige Assistent von DFB-Teamchef Franz Beckenbauer an den 2:0-Sieg der Engländer gegen die Soca Warriors, als Peter Crouch (83.) und Steven Gerrard (90.) erst in den letzten Minuten trafen.
Aber auch, wenn keine so genannten Kleinen beteiligt sind, fällt die Entscheidung oft erst in der Schlussphase. So etwa beim 1:0 der deutschen Mannschaft gegen Polen, als der eingewechselte Oliver Neuville in der Nachspielzeit das Siegtor erzielte - übrigens eines von insgesamt 18 Jokertoren.
"Die Unterschiede zwischen den Teams sind nur Nuancen, die man oft erst zum Schluss merkt, wenn die Konzentration ein bisschen nachlässt", sagt Osieck.
Bei früheren Weltmeisterschaften sei dieses Phänomen noch nicht so ausgeprägt gewesen, weil die Unterschiede im physischen Bereich größer waren und daher schon früher im Spiel Tore nach Konzentrationsfehlern fielen.
"Fußballspiele werden durch Fehler entschieden, und die Fehlerquote wird durch Konzentrationsmängel höher", sagt auch Bundesliga-Trainer Jürgen Klopp vom FSV Mainz 05. Der ZDF-Experte glaubt zudem, dass die Belastung der WM-Spieler "durch viele Europapokal- und Ligaspiele in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen" ist.
Nicht jedem gefällt die packende Schlussphase nach langen ereignisarmen Minuten zuvor. "Furchtbar" fand Ex-Torwart Thomas Ravelli das 1:0 seiner Schweden gegen Paraguay, das Fredrik Ljungberg mit einem Kopfballtor in der 89. Minute sicherstellte.
"Das war 89 Minuten lang ein Vorspiel und dann eine Minute ein Orgasmus - was ist das für Sex?", fragte der schwedische Rekord-Internationale, der an den WM-Turnieren 1990 und 1994 teilnahm.
In der Tat passiert lange sehr wenig in den WM-Stadien. Der unvermeidbare Gang zur Toilette empfiehlt sich - wenn schon nicht in der Halbzeitpause - eher zwischen der 61. und 75. Minute. Dann sind bislang nur acht Tore gefallen.
Auch die erste Viertelstunde nach der Pause war mit zwölf Treffern weniger unterhaltsam. Die meisten Tore fielen - außerhalb der Schlussphase - zwischen der 16. und 30. Minute (20), etwas weniger kurz vor der Pause (19) und gleich zu Beginn (16).
Die torärmsten Schlussphasen sahen im Übrigen die Zuschauer bei der WM 1934 in Italien: Nur zehn Tore, 14 Prozent der Gesamtausbeute, fielen nach der 75. Minute.
Viele späte Tore gab es nicht nur 1990 in Italien (33/29 Prozent), sondern auch 1998 in Frankreich (44/26 Prozent), 1966 in England (20/22 Prozent) und 1974 in Deutschland (20/21 Prozent).