Zitat von
Der Rentner
Mein Vater spielte leidenschaftlich Fußball, zweimal die Woche Training, am Wochenende ein Spiel. Dazu jeden Samstag die Sportschau, das werden viele Söhne so mit ihren Vätern erlebt haben. Dazu noch bei jedem Familientreffen die obligatorischen Diskussionen über die Ergebnisse und den eigenen Verein.
Doch bei mir gab es noch was anderes, was ganz komisches. Jedes Wochenende im Winter gab es einen Tag, an dem sich mein Vater warm anzog, eine Thermoskanne mit heißen Tee füllte und für ein paar Stunden sich seinem Sport widmete. Komisch, es ist doch gar keine Fußballzeit – was macht mein Vater denn da? Er ging zu seinem AEV. War Fußball seine Leidenschaft, sein Hobby, sein Ausgleich, so war Eishockey seine große Liebe. Das habe ich als kleiner Junge nicht verstanden, ich kannte den Sport nur von Erzählungen und mal aus einem Zeitungsbericht. Aber das Feuer meines Vaters für den AEV war beeindruckend, es machte mich neugierig. Und so kam es, dass ich nach zuvor vielen, vielen Ablehnungen doch einmal mitgegangen bin. Warm eingepackt, meine Mutter bestand darauf, so dass ich als kleiner Bub kaum laufen konnte und mit einer Holzkiste bewaffnet, die ich stolz vor mir her trug, wie eine Trophäe, weil ich nun mit meinem Papa zum Eishockey ging.
Alles war neu, alles so anders in diesem grauen aus Beton gegossenen Stadion. Zielsicher ging mein Vater durch die Reihen, bis er an seinem Platz angekommen war. Ostseite, Halblinks, sein Stehplatz – seit vielen, vielen Jahren. Seit dem Augenblick als ein Vater zum ersten Mal mit ihm ins Stadion gegangen war. Menschen, von denen ich nie zuvor gehört hatte, die ich nie gesehen hatte, begrüßten uns freundlich und herzlich. Vor allem ich wurde überschwänglich in Empfang genommen von diesen Fremden. Auch sie standen seit Jahren an ihren immer gleichen Plätzen, auch sie waren mit ihren Vätern hier und auch sie brachten ihre Kinder mit. Gleich wurde ein kleiner Platz für meine Holzkiste frei gemacht, gleich wurde mein Platz in der „Familie“ gefestigt. Ich gehörte nun dazu, wurde einer von ihnen. Und so standen wir nun zusammen, sahen das Spiel an und das Feuer, das ich bei meinem Vater immer gespürt habe legte seine erste Glut in mein Herz. Der AEV hatte mich erfasst.
Zu Hause erzählte ich völlig überdreht und voller Euphorie von diesem meinem ersten Spiel, dem Stadion, den netten Leuten um uns. Eine Woche später war ich wieder mit dabei, wieder mit meine Holzkiste unter den Füßen. So ging es los. Woche für Woche, erst noch unregelmäßig, dann mit Dauerkarte ging ich mit meinem Vater ins Stadion, ich wurde größer und älter, bald konnte ich ohne Holzkiste im Stadion stehen. Auch die Leute um mich herum wurden älter, sie wurden Eltern oder Großeltern, brachten ihre Kinder oder Enkel mit, die nun ich beim Erwachsenwerden im Winter wenigstens einen Tag der Woche begleitet habe. Man sah aus Kindern junge Frauen und Männer werden, aus Arbeitern wurden Rentner. Man feierte zusammen Geburtstag, freute sich über den Nachwuchs. Man traf Freunde fürs Leben, man trauerte zusammen beim Tod eines Mitglieds der Gruppe. Für diesen einen Tag der Woche gab es eine zweite Familie um genau meine paar Quadratzentimeter kargen, grauen betonierten Stehplatz herum.
Mein Stehplatz im Osten war mehr als einfach nur ein Stehplatz. Er war Erinnerung, er war Freundschaft, er war Leidenschaft, er war Zusammenhalt – er war mein Anfang beim AEV. Doch er ist Vergangenheit. Übrig ist ein kleines Stück Bauschutt, unscheinbar für jeden Außenstehende, doch für mich etwas ungemein Wertvolles. Unsere, meine kleine AEV-Familie hat sich nun in alle Richtungen zerstreut. Doch ich bin nicht traurig, nur ein wenig sentimental. Veränderungen gehören zum Leben dazu. Der Wandel ist eine Chance für etwas Neues, neue Bekanntschaften, neue Blinkwinkel, neue nette Leute.
Meine Erinnerungen an meine zweite kleine AEV-Familie, die vielen schönen gemeinsamen Momente kann mir kein Bagger und kein Umbau nehmen. Jetzt kommt die Zeit des Unbekannten, des Neuen, der Herausforderung. Und vielleicht werden meine Kinder und Enkel eines Tages mit mir zusammen ihren besonderen Platz im neuen Stadion finden, vielleicht ein Sitzplatz, vielleicht ein Stehplatz. Es wird dann ihr Platz sein, ein neuer Platz und trotzdem wird meine Geschichte in ihnen weitergehen. So wie vielleicht auch meine Leidenschaft für den AEV in ihren Herzen weiter brennen wird. Mein Stehplatz wird immer bei mir sein.
Gruß
Der Rentner