Kommentar in der Wirtschaftswoche:
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Von Friedrich Merz ist keine Antwort mehr zu erwarten.
Eine Kolumne von Dieter Schnaas
Ein Novize im Kanzleramt – kein Problem, dachte man, das wird schon. Nichts wird. Der CDU-Chef denunziert „die Mitte“, lässt die AfD triumphieren – und schwadroniert von einem „Mehrheitswillen“. Es ist beschämend. Ein Schock. Und eine Zäsur.
Ja, wie wäre das? Von Friedrich Merz ist darauf keine Antwort mehr zu erwarten. Er hat vergangene Woche sein Versprechen vom 13. November 2024 gebrochen, für die Restlaufzeit der Restampelregierung keine Abstimmungen ins Parlament einzubringen, über die man sich nicht zuvor „mit Ihnen von der SPD und den Grünen in der Sache geeinigt hat“. Friedrich Merz hat „die Mitte“ preisgegeben, für nichts und wieder nichts, hat „sehenden Auges erstmalig bei einer Abstimmung im Deutschen Bundestag eine Mehrheit mit den Stimmen der AfD ermöglicht“ (Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel) – und den Rechtspopulisten einen Triumph geschenkt. Er hat sich politischen Eckenstehern und Demokratiefeinden an den Hals geworfen, die alles schlechtreden in diesem Land, aus dem Affekt heraus, um eines vermeintlichen Vorteils im Wahlkampf willen – weil sein Wille geschehen sollte, jetzt und gleich und eins zu eins – ein Kleinkind, ein Trotzkopf, ein Dummerchen, Ist-mir-doch-egal: Man fasst es auch Tage später noch nicht.
Und man fasst beinahe noch weniger, dass Merz dabei auch noch jedes Verständnis für die Taktiken und Mechanismen des politischen Betriebs in Berlin hat vermissen lassen; dass er, blind vor eifernder Naivität und naiver Eiferei, Alice Weidel die Bühne bereitet, die AfD-Chefin zur „Staatsfrau“ geadelt hat, keine vier Wochen vor der Bundestagswahl – zu einer Staatsfrau, die es, wie Friedrich Luther Merz, nicht mehr mit ihrem „Gewissen“ vereinbaren kann, so und nicht anders abzustimmen, „aus Verantwortung“, „für Deutschland“ – während SPD und Grüne die Sicherheit des Landes gefährden. Was für ein Abgrund!
Es geht nicht um Inhalte, nicht um Migrationspolitik
Nein, diese Woche lässt nur einen Schluss zu: Friedrich Merz kann es nicht. Ein Novize im Kanzleramt, ein Regierungsazubi als Exekutivchef – kein Problem, dachte man vielleicht noch vor zwei Wochen, das wird schon, irgendwie, soll er sich ruhig beweisen, mal abwarten, eine Chance hat jeder verdient. Nein, hat er nicht. Nicht nach dieser Nummer. Nicht nach dieser Farce. Nicht Friedrich Merz.
Halten wir noch einmal kurz fest, worum es bei diesem Totalversagen von Friedrich Merz geht und worum nicht: nicht um politische Inhalte, nicht um Migrationspolitik, nicht um „geschlossene Grenzen“. Sondern um seine Shit-Show.
Friedrich Merz war nach „Aschaffenburg“ entsetzt, empört, in Rage. Verständlich. Er hat sich gesorgt, die entsetzliche Gewalttat könnte der AfD in die Hände spielen, die Union Punkte kosten im Wahlkampf. Zurecht. Er hat SPD und Grünen (und natürlich auch seiner Intimfeindin Angela Merkel) ihre multiplen Versäumnisse in der Migrationsfrage und ihre weitgehend folgenlosen Betroffenheitsgesten vorhalten wollen, das eingeübte Versteckspiel der Restregierung, die immer rechtliche Bedenken und Vollzugsprobleme anmeldet, auf neu zu koordinierende Zuständigkeiten und EU-Beschlüsse verweist, deren Wirkung ab 2026 man erst einmal abwarten müsse… – Merz wäre ein schlechter Kanzlerkandidat, zumal der Union, wenn er das leidige Thema nicht für zentral hielte, ein lausiger Wahlkämpfer, wenn er es liegen ließe.
Und er nutzt seine Chance, zunächst, mit softpopulistischer Note und leicht trumpeskem Tag-Eins-Gerede: Ich werde dieses Problem endlich in den Griff bekommen – und wer da nicht mitmacht, soll erst gar nicht auf die Idee kommen, mit mir in Koalitionsverhandlungen einzutreten. Eine steile Ansage. Aber absolut in Ordnung. Die Deutschen sollen sehen: Es reicht. Ich habe verstanden. Euer nächster Kanzler steht in dieser Frage nicht nur und kann nicht anders, sondern er steht auch persönlich dafür ein, verbindet sein politisches Schicksal mit der Lösung des Migrationsproblems: Ich gebe Euch mein Wort. Friedrich Merz ist noch Oppositionschef. Noch muss er keine Rücksichten nehmen. Noch kann er das protegieren, was er und seine Fanboys im Adenauer-Haus für „CDU pur“ halten. Noch darf er die Latte für Koalitionsgespräche fast unerreichbar hoch legen.
Aber Friedrich Merz ist eben auch schon: Kanzler in Reserve. Und als solcher versagt er – so gründlich, dass man seiner Union nur wünschen kann, in den kommenden Wochen noch kräftig an Zustimmung einzubüßen. AfD-Chefin Alice Weidel lädt Merz noch am gleichen Tag ein, den Bundestag über seinen „Fünf-Punkte-Plan“ abstimmen zu lassen, der Beifall ihrer Fraktion sei ihm jedenfalls sicher: Endlich ringe sich die Union zu Positionen durch, die ihre Partei bereits seit neun Jahren vertrete. Der Rest ist Legende. Merz und die Seinen drehen durch und verlieren die Kontrolle. Sie stellen SPD und Grüne vor die „Wahl“, ihrem Entschließungsantrag zu folgen oder als „Sicherheitsgefährder“ denunziert zu werden, sie jazzen einen eilig eingebrachten, rein symbolpolitischen, also folgenlosen „Entschließungsantrag“ zu einer Frage ihres „Gewissens“ hoch (Merz), um die Restregierung vorzuführen – und sind so gewissenlos, für einen symbolischen Sieg „die Mitte“ zu opfern – die AfD „sehenden Auges“ triumphieren zu lassen.
Es ist zutiefst beschämend. Eine unverzeihliche Grenzüberschreitung. Ein Schock. Eine Zäsur.
Und diese Zäsur kommt wohl auch deshalb zustande, weil niemand im engsten Führungszirkel der CDU mehr Widerspruch wagt und fast alle im Konrad-Adenauer-Haus nurmehr denselben politischen Voreinstellungen nachjagen; weil man sich so lange in seinen Ekel vor linksgrünen politischen Gegnern hineingesteigert hat, dass der politische Feind zur Rechten den routinierten Stammtischbewirtschaftern in der Union zuletzt als maßgebendes „Sprachrohr des Volkes“ erscheinen musste – und natürlich, weil man sich vom Phantom einer selbst erfüllenden Prophezeiung vor sich hertreiben lässt, sich seit Wochen schon das schmeichelnde Gruselnarrativ vorbetet, ein Moment der Dezision sei nahe: Wenn wir, die Friedrich-Merz-Union, das Ruder jetzt nicht rumreißen und Deutschland retten, wird die AfD 2029…
Friedrich Merz hinterlässt einen Scherbenhaufen. Niemand konnte ihm auf seinem Weg ins Kanzleramt gefährlich werden – bis er sich einmal mehr als Mensch mit mangelnder Impulskontrolle entlarvte. Vier Wochen noch trennten ihn davon, erstmals in seinem Leben amtliche Politikspuren ziehen zu können – bis er sich zu einer symbolpolitischen Geisterbahnfahrt hinreißen ließ, mit der er sich selbst markiert als Politiker des Unernstes und taktischen Ungeschicks, der handwerklichen Mängel – und Skrupellosigkeit."