Stephanie-Prozess
Verfasst: 08.11.2006 13:13
Quelle: http://www.spiegel.de vom 08.11.06
STEPHANIE-PROZESS
Angeklagter seit vier Stunden auf Gefängnisdach
Skandalöse Panne in der Justizvollzugsanstalt Dresden: Mario M., der wegen Entführung und Vergewaltigung der Schülerin Stephanie vor Gericht steht, ist seinen Wärtern entkommen. Der Angeklagte hat sich aufs Dach eines Gefängnisgebäudes geflüchtet.
Dresden - Der 36-Jährige habe einen Hofgang ausgenutzt und sei gegen 7.20 Uhr auf das Dach eines vierstöckigen Gebäudes innerhalb der Justizvollzugsanstalt gestiegen, sagte der Sprecher des Justizministeriums, Martin Marx SPIEGEL ONLINE. M. sei in Begleitung zweier Mitarbeiter der JVA gewesen, als er plötzlich "unvermittelt und ohne Hilfsmittel auf die Fassade zugestürzt" sei.
Video: ReutersLaut Ulrich Schwarzer, dem Leiter der Justizvollzugsanstalt, hat sich der Angeklagte wohl an den Gitterstäben der Fenster hochgehangelt. "Wir gehen davon aus, dass er Forderungen stellen wird", sagte Schwarzer.
Es gebe keine Möglichkeiten für einen Fluchtversuch, so Sprecher Marx, da die Außenmauer des Gefängnisses mehr als zehn Meter entfernt sei. M. steht am Rande des Daches, die Hände in den Hosentaschen, geht zwischendurch auf und ab und setzt sich mitunter auch hin. Er wirkt gelassen.
Bislang hat er laut Marx weder Drohungen noch Forderungen geäußert. "Man kann nicht in seinen Kopf hineinschauen, aber wir nehmen an, dass er keinen Selbstmordversuch unternehmen will", sagte Marx. Inzwischen wurde eine Hebebühne neben dem Gebäude aufgebaut. Zwei Männer sprechen von dort aus mit Mario M.
Polizei und der Verteidiger des Mannes seien vor Ort. Psychologen hätten bereits Kontakt mit ihm aufgenommen. Zwei Züge eines Sondereinsatzkommandos und die gesamte Wachmannschaft der Haftanstalt sind um das Gebäude herum gruppiert und sperren den Bereich ab. Vorkehrungen für den Fall, dass M. sich doch vom Gebäude stürzt, würden die SEK-Beamten treffen, sagte Marx.
Nach Angaben von Sprecher Marx steht M. seit seiner Festnahme ständig unter psychologischer Beobachtung und ist auf einer Station mit besonderen Sicherheitsvorkehrungen untergebracht. Bereits am Montag hatte der mutmaßliche Vergewaltiger vor Gericht einen Tumult ausgelöst, als er während der Anklageverlesung plötzlich aufgesprungen war. Nur mit Mühe hatten ihn mehrere Beamte überwältigen können. Der Prozess musste deswegen mehrfach unterbrochen werden.
Der 36-Jährige muss sich wegen Vergewaltigung, Geiselnahme und anderer Straftaten verantworten. Die damals 13 Jahre alte Stephanie war Anfang des Jahres entführt und wochenlang sexuell misshandelt worden. Beim Prozessauftakt hatte der Angeklagte ein umfangreiches Geständnis abgelegt.
Stephanie sagt Aussage ab
Stephanie, Nebenklägerin in dem Prozess, wird nach dem Vorfall mit ihrem Peiniger Mario M. in der Justizvollzugsanstalt Dresden nicht wie ursprünglich geplant morgen vor Gericht aussagen. Das sagte ihr Rechtsbeistand Thomas Kämmer im Fernsehsender N24. Er sprach von einer "neuerlichen unfassbaren Justizpanne".
Der Vater von Stephanie sei "völlig außer sich", sagte Kämmer. Für das Mädchen sei der Vorfall ein "Rückschlag". Es sei ihre "schlimmste Befürchtung", dass Mario M. wieder "rauskommen könnte". "Wer es nicht schafft, den Angeklagten im Gefängnis unter Kontrolle zu behalten, schafft dies auch nicht im Gerichtssaal", sagte Kämmer. Der Angeklagte habe ein "Gewalt- und Täuschungspotential ohne Gleichen". Der Jurist forderte im Namen der Familie die sofortige Suspendierung des Gefängnisleiters Ulrich Schwarzer und einen "kontrollierten Vollzug" des Angeklagten. Es müsse geklärt werden, warum M. überhaupt Freigang erhalten habe.
dab/dpa/AP/AFP